Sonntag, 14. August 2011

Die Geschichte Teil 33

Wiesbaden, April 89.
Drei Jahre und zwei Monate lang hatten sie kein Konzert mehr gegeben. In der Presse wurden die Böhsen Onkelz und ihr Austritt aus der Glatzenszene nicht etwa nur totgeschwiegen, sondern man musste davon ausgehen, dass die Presse überhaupt nichts von den Onkelz wusste. Obwohl es interessant gewesen wäre, zu erfahren, wie es einer Skinheadband ergangen war, die auf dem Höhepunkt ihres Erfolges die Szene verlassen hatte, wurde über dieses erste Konzert nach der Neuorientierung nirgendwo berichtet.
Am 3. und 4. April 89 gab die Band zwei Konzerte im "ZickZack", einer Wiesbadener Disco. Für die meisten der neueren Onkelzfans war dies ihre erste Chance, die Band live spielen zu sehen. Das ZickZack war an beiden Abenden mit gut 800 Leuten ausverkauft. Was das Publikum anging, konnte man von einer Mischung sprechen, die sich sowohl am Freitag, als auch am Samstag aus folgenden Gruppen zusammensetzte. Glatzen waren mit einem kleinen Aufgebot von 20-30 Mann erschienen, von denen die meisten älter als 20 waren und sich friedlich verhielten. Punks waren mit einer noch kleineren Delegation von etwa 10-20 Exemplaren vertreten. Den größten Anteil an Zuschauern machte ein unentwirrbarer Haufen von Langhaarigen, Fußballasis, Metal-Schüttlern und Crossover-Rockern aus. Von einem Nazi-Skin-Aufmarsch konnte keine Rede sein.

Versteckt unter einer Glocke aus Hass und Ablehnung, bewaffnet mit einer Aura höchster Explosivität und mit Augen, die beseelt waren von bedingungsloser Provokation, stellte Kevin mehr den je die große magnetische Figur des Schreckens dar. Es war deutlich spürbar an diesem Abend, dass von ihm die größte Anziehungskraft ausging und dass er derjenige war, der diese Kraft auf die Zuschauer übertrug und sie zu binden verstand. Als Gonzo die Noten von "28" anschlug, wurde diese Kraft entfesselt. Stephan hackte auf seinen Bass ein und wurde sich im selben Moment darüber klar, dass es ganz genau das war, was er schon lange wieder einmal tun wollte. Auf der Bühne stehen und Musik machen. Stephan drehte durch. Selbstgeschriebene Songs durch die Verstärker zu jagen, das war so großartig und ein so merkwürdiges Gefühl von Stolz, Bestätigung und Euphorie, dass es ihm kalt den Rücken runterlief. Hier zog der Geist der "28" deutlich sichtbar in rauchigen Schwaden über die Bühne. um Ende des Stückes betrat Kevin den Raum.. Er stellte sich vor die Fans, riss die Arme hoch und ließ sich ein paar Sekunden feiern. Seine schulterlangen Haare waren glatt nach hinten gekämmt. Er lächelte. Dass dieser freundliche Eindruck täuschte, wusste jeder Konzertbesucher spätestens in dem Moment als Kevin sich das Mikro schnappte und "Guten Abend" rief.Wer so "Guten Abend" sagen konnte, der machte sich auch nicht de Mühe, Türen mit der Hand zu öffnen. Tief, heiser und nicht den geringsten Widerspruch duldend, fing Kevin an zu singen. "Guten Tag, erkennt ihr mich, wisst ihr nicht wer ich bin ? Seht ihr den Hass in meinem Gesicht, ich nehm dem Leben jeden Sinn . . ." Kevin wuchs über sich hinaus. die Bühne war der einzige Ort, wo er mit der Außenwelt in Kontakt trat.Die Gefühle anderer Menschen waren in ihrer Vereinnahmung für Kevin eine Bedrohung, von der er sich im täglichen Leben zu isolieren versuchte. Er selbst stellte sich unter sein eigenes Leitbild, und dieses Bild verkaufte er den anderen als "Kevin Russell". Das war das Idol oder die Vorstellung des "Härtesten". Wie ein Priester im Indianerstamm missionierte er seine Fans, um sich wenigstens auf eine Quasi-Art am äußeren Leben zu beteiligen. Diese seelischen Blockaden waren tragisch und trieben ihn oft bis an den rand des Wahnsinns. Jeder seiner Freunde wusste von Kevins schlimmen Alpträumen, die ihn schon seit seiner Kindheit plagten und die sich in seinen Horrorgeschichten ausdrückten, die er permanent zum besten gab. Diese traurigen Blockaden waren aber gleichzeitig auch der Quell seiner Kreativität und seiner Begabung. Kevins Tattookunst war zweifelsfrei professionell und trug seine ganz persönliche Handschrift. Genau so waren seine Qualitäten als Sänger beim Publikum hoch geschätzt. Wer konnte besser über Hass singen, als jemand, der so zu hassen in der Lage war wie Kevin ? Russell war sicher keine Nachtigall, aber er wusste genau, was seine Fans wollten und er konnte es ihnen geben. So wie es Stephan mit seinen derben Texten darauf anlegte, die Fans mitten ins Herz zu treffen und die Öffentlichkeit bis aufs Äußerste zu reizen, so sorgte Kevin mit seiner magischen Autorität und seiner brutalen Stimme dafür, dass um die Band herum ein Auffangbecken entstand, in dem sich bald viele orientierungslose Gleichgesinnte tummelten. Meistens waren es Jugendliche, die vom Leben nicht mehr viel zu erwarten hatten. Jungs mit schlecht bezahlten Jobs oder abgebrochener Lehre. Hauptschüler, Sonderschüler und Freaks, denen ihre Erfahrungen des Scheiterns und der Resignation auf der Stirn geschrieben standen. Dass rechte Parteien unter diesen Leuten gerne den Hass schürten und mitunter erfolgreich neuen Nachwuchs rekrutierten, traf zu. Es traf aber auch zu, dass diese Jugendlichen nicht den geringsten Plan von irgendetwas hatten und gerne nach jedem Strohhalm griffen, den man ihnen hinhielt. So wie die betrogenen Jugendlichen nach dem Strohhalm griffen, genauso griffen die Fans nach den Liedern der Onkelz.Die Identifikation mit der Band spielte bei ihren Anhängern von Anfang an eine große Rolle. Dass es hier und dort Schnittmengen gab, war nur logisch. Bereits in Wiesbaden im Frühjahr 89 wurden alle Lieder mitgesungenund somit ein Zusammenhalt zementiert, der weit bis in die 90er Jahre hineinreichen sollte. Das hatte viel mit Widerstand und Auflehnung zu tun, mit Provokation und auch mit Trotz, nicht aber mit Politik. Onkelzkonzerte, dass wurde jetzt immer deutlicher, waren eher so etwas wie eine gemeinsame, interne Verarbeitung von Aggressionen. Unzugänglich und undurchsichtig für Beobachter aus einem anderen Milieu.
In Wiesbaden hielten sich die Onkelz nicht zurück, und Kevin, wenn er einmal dort oben stand, drehte am Rad, bis seine Tattoos glühten. Am Ende konnte er nur noch röcheln. Seinen ganzen Hass und sein ganzes Chaos spuckte er ihnen vor die Füße. De Fans schluckten diesen Schmodder begierig und brüllten ihn aus 800 Kehlen synchron zurück, so dass sich alle Aggros gemeinsam entluden. Das Singen und die erleichterte Stimmung, die dabei aufkam, war das, was ein Onkelzkonzert ausmachte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen